Neuerscheinungen vom 10. Februar 2022

Einleitung: 

Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser,

vielleicht gehören Sie auch zu den Menschen, die gerne einmal eine Geschichte aus ihrem Leben erzählen. Kleine und heitere Anekdoten aus Kindheit und Jugend sind und machen beliebt. Doch es braucht schon Mut, über Erlebnisse und Erfahrungen aus der eigenen Vergangenheit zu berichten, die man selbst und auch die Gesellschaft lieber vergessen und verschweigen würden. Von einem Frankfurter, der diese Herausforderung annahm, handelt der diesmalige Artikel des Monats.

Artikel des Monats Februar 2022:
Aus der Reihe getanzt

Er war jung und wollte, wie er selbst einmal sagte, einfach nur „sein Leben leben“: Wolfgang Lauinger. Doch unter dem nationalsozialistischen Regime war seine Familie aufgrund der jüdischen Herkunft des Vaters ab 1933 zunehmend Repressionen ausgesetzt. Der Vater, der Journalist Artur Lauinger, verlor im Sommer 1937 seine langjährige Stelle bei der Frankfurter Zeitung und wurde nach dem Novemberpogrom 1938 für fünf Monate im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert. Als der Vater 1939 nach London emigrieren konnte, musste er den knapp 21-jährigen Sohn zurücklassen. Kurz zuvor war Wolfgang Lauinger für den Kriegsdienst gemustert worden. Nach kaum begonnener Militärzeit, für die er seine Lehre als Feinmechaniker abbrechen musste, wurde er jedoch 1940 entlassen, weil er als „Mischling ersten Grades“ in der Wehrmacht für nicht mehr tragbar galt. Lauinger fand Arbeit in einem Rüstungsbetrieb in Neu-Isenburg und schloss sich in Frankfurt dem „Harlem-Club“ an, einer Gruppe junger Leute, die sich im „Café Goetheplatz“ traf, um gemeinsam Swingmusik zu hören. Sie seien – so Lauinger – „buchstäblich aus der Reihe getanzt“. Ende 1941 wurden er und andere der „Swing Kids“ von der Gestapo verhaftet. Aus nichtigem Anlass wurde Lauinger 1942 zu einer dreimonatigen Haftstrafe verurteilt, die er im Preungesheimer Gefängnis verbüßte. Er verließ Frankfurt und kam mit viel Glück durch die letzten Jahre des „Dritten Reichs“.
Nach einer kurzen „Schwarzmarktkarriere“ arbeitete Lauinger ab 1947 im Dienst der US-amerikanischen Besatzungsmacht, zuletzt als Hausverwalter in der größtenteils beschlagnahmten Villenkolonie Buchschlag. Im Spätsommer 1950 wurde er unvermittelt verhaftet. Damals diente Otto Blankenstein, ein jugendlicher „Stricher“, der Polizei als Kronzeuge für eine Serie von Ermittlungen und Verhaftungen, in der Hunderte von Männern der (seinerzeit nach Paragraph 175 noch strafbaren) Homosexualität bezichtigt wurden. Blankenstein hatte auch Lauingers Namen genannt. In den „Frankfurter Homosexuellenprozessen“ wurde Lauinger 1951 zwar freigesprochen. Doch ein Leben lang wartete er vergeblich auf eine Rehabilitation und Entschädigung für die zu Unrecht erlittene Untersuchungshaft. Ende 2017 starb Wolfgang Lauinger im Alter von 99 Jahren in seiner Geburtsstadt Frankfurt.
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Schluss: 

In seinen letzten Lebensjahrzehnten war es Wolfgang Lauinger ein besonderes Anliegen, mit jungen Menschen über die NS-Zeit zu sprechen, um sich für Demokratie und Toleranz einzusetzen. Er steht damit exemplarisch für zahlreiche Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die seit den 1970er und verstärkt seit den 1980er Jahren auf vielfältige Weise über ihre Erlebnisse in der Zeit des Nationalsozialismus berichteten und immer wieder das Gespräch, vor allem mit Schülerinnen und Schülern, suchten. Das Zeitzeugengespräch wurde zum wichtigen und probaten Mittel in der Geschichtsdidaktik, um auch jüngeren Menschen begreiflich machen zu können, was das Leben unter der NS-Diktatur für jeden Einzelnen bedeutet hatte.
Kürzlich sind zwei prominente Frankfurter Zeitzeugen in hohem Alter gestorben: die Frankfurter Ehrenbürgerin Trude Simonsohn am 6. Januar und der renommierte Jazzmusiker Emil Mangelsdorff am 21. Januar des Jahres. Schmerzlich wurde das Sterben letzter Zeitzeuginnen und Zeitzeugen für die NS-Zeit bewusst, das aus diesem Anlass auch in der Presse vielfach thematisiert und diskutiert wurde. Vielen wurde klar, dass es allmählich gilt, andere wirksame Wege zur Vermittlung der NS-Geschichte zu erschließen.
Vorerst bleibt uns die Aufgabe, an bedeutende Frankfurter Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu erinnern, die sich durch das Erzählen ihrer Lebensgeschichten aus der NS-Zeit gegen das Vergessen eingesetzt haben. Im Frankfurter Personenlexikon sind bereits einige Zeitzeuginnen und Zeitzeugen mit ihren „Überlebensgeschichten“ aus den Jahren von 1933 bis 1945 vertreten, wie z. B. Richard Plant und Friedrich Schafranek. Weitere entsprechende Artikel sollen folgen. Geplant sind etwa Beiträge über zwei bekannte Frankfurter Zeitzeugen der ersten Stunde, Valentin Senger („Kaiserhofstraße 12“, 1978) und Mile Braach („Wenn meine Briefe Dich erreichen könnten“, 1987), die nicht nur in ihren Büchern über ihr Leben in der NS-Zeit erzählten. Langfristig sind selbstverständlich auch Artikel über Trude Simonsohn und Emil Mangelsdorff vorgesehen.

Insgesamt liegt der Schwerpunkt in der aktuellen Artikellieferung auf dem 20. Jahrhundert, das immer wieder Stoff für neue, von der Forschung bisher kaum bearbeitete Biographien im Frankfurter Personenlexikon bietet. So erscheinen diesmal etwa Artikel über die Malerin Mathilde Battenberg, die sich seit ersten Aufträgen 1903 zu einer gefragten Porträtistin der Frankfurter Gesellschaft entwickelte, über den Messedirektor Josef Modlinger, der die Frankfurter Internationalen Messen in dem Jahrzehnt von 1919 bis 1929 wesentlich mitinitiierte und prägte, über den Fotografen Max Göllner, der in den Zwanzigerjahren die Architektur des „Neuen Frankfurt“ und in den Dreißigerjahren die Modelle des städtischen Modeamts aufnahm, sowie über den Fürsorgebeamten Abraham Sauer, der nach dem Zweiten Weltkrieg den VdK Hessen neu begründete.

Eine spannende Lektüre wünscht Ihnen
mit besten Grüßen
Sabine Hock
Chefredakteurin des Frankfurter Personenlexikons

P. S. Die nächste Artikellieferung erscheint am 10. März 2022.